Ein philosophischer Blog

14.7.2021


Familie


Zur Zeit begegnen mir verstärkt Aussagen, die mich erschaudern lassen.

Freunde, die darunter leiden, dass sie als bewusst und freiwillig kinderloses Ehepaar von ihrem Umfeld nicht als Familie anerkannt werden. Sie tragen seit der Hochzeit den gleichen Nachnamen, den Familiennamen. Sie sind in die familiären Strukturen des jeweiligen Gegenübers eng eingebunden. Der Partner hat bereits erwachsene Kinder aus erster Ehe, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben. Sie leben zusammen und stehen füreinander ein. Warum also gelten sie für manche nicht als (eigene) Familie?

In einem anderen Fall leidet eine Frau mit ihrem Ehemann unter ihrer Kinderlosigkeit. Sie wäre nicht nur aus meiner Sicht, sondern aus der Sicht vieler die ideale Mutter. Sie ist bereit, sehr weit dafür zu gehen. Sie liebt es, für die Kinder innerhalb ihrer Verwandtschaft zu sorgen und es ist ihr Beruf, die Kinder fremder Eltern zu erziehen. Bedeutet das - wie aus ihrer Sicht -, dass ihre Familie nicht vollständig ist?

Eine weitere Geschichte ist die einer Freundin, die nicht nur kinder- sondern auch sehr lange partnerlos ist. Sie hat einen weiten Freundeskreis und ist sozial sehr stark eingebunden. Mit ihren Eltern und Geschwistern hat sie Kontakt. Heißt das dann aber, sie hat keine eigene Familie?

Andererseits erlebte ich auch in meinem Beruf häufig die Folgen einer missachtenden, auch misshandelnden Verwandtschaft. Mütter, Väter, Geschwister, die ihren Verwandten unfassbare Dinge antun. Das ist aber Familie?

Ich kenne Verwandte, die sich gegenseitig und oft final den Rücken kehren - aus nachvollziehbaren und nicht nachvollziehbaren Gründen. Aus einer Geschichte heraus oder nicht. Ist das noch Familie?

Auch habe ich von jungen Menschen erfahren, dass sie auf der Flucht vor Krieg von ihren eigenen Eltern in andere Länder geschickt wurden - minderjährig und mit kaum einer Chance, die Eltern jemals wieder zu finden. Weil es sich um eine illegale Flucht handelte. Wie kann Familie so bestehen bleiben?

Die Frage, die sich mir immer wieder stellt ist dann: Was heißt es, eine Familie zu sein? Braucht es einen Grad an organisierter, verwaltbarer Verhaftetheit?
Oder ist es nicht doch möglich, die eigene Familie zu wählen? Fügt sich Familie nicht von selbst? Welches Bedürfnis schafft uns nur so große Not?

Familie ist für mich kein Verwaltungsakt, keine von außen vorgegebene Ordnung. Wenn ich mich meinem sozialen Netzwerk zu wende, scheint es, als könnte ich Familie spüren. Dabei macht mein Gefühl keinen Unterschied zwischen verwandten Genen und Freundschaft. Familie ist für mich, wenn das Herz nachhaltig berührt ist. Ich habe keine familiäre Not. Ich habe wohl Glück!


13.6.2021


Moral


Der Begriff “Moral” meint die Summe der geltenden Sitten und wird oft abschätzig gebraucht, um einen gesamtgesellschaftlichen Dogmatismus zu beschreiben, aber auch wertschätzend, um die Zugehörigkeit zu einem Wertekanon zu identifizieren.
Moral wird häufig als übermächtig und einengend wahrgenommen. Oft nimmt man sich selbst nicht als Teil einer moralformenden Gesellschaft wahr und ist es wohl doch. Gerne ist auch von “Doppelmoral” die Rede, wenn Vertretende der Gesellschaft etwas der gerade gültigen Werteordnung entgegenstehendes tun und dies mit anderen Moralkodizes begründen.
Moral meint aber auch eine gewisse (meist selbstlose) Haltung zu etwas. So wird der Begriff “Arbeitsmoral” als Ausdruck über die Einstellung einer Person zu seinen oder ihren beruflichen Pflichten verwendet.
Fraglich bleibt, wie Moral entsteht, wie sie angeeignet wird und unter welchen Umständen sie tatsächlich Anwendung findet, bzw. finden darf. Und wann von ihrem “Verfall” die Rede ist.
Sie scheint unbewusst, aber immer wieder neu demokratisch abgestimmt zu sein und nicht theoretisch reflektiert zu werden. (Letzteres geschieht erst durch Ethik.) Da Moral auch zu einem gewissen Grad das Gutsein zueinander meint, wird Tieren, die einander pflegen, manchmal (und in gewisser Weise “neuerdings”) auf Basis der Deutung ihres Verhaltens ein moralisches Bewusstsein zugeschrieben.
Moral kann zu gesellschaftlichem Ausschluss bestimmter gegen gerade geltende moralische Regeln verstoßende Personen führen. Die Gefahr besteht, dass ein moralisches Urteil ohne jede gerechte Anhörung des oder der Beschuldigten oder Überprüfung mit Fakten gefällt und eine Strafe, z.B. durch Boykott einer bestimmten Künstlerin, ohne jede Aussicht auf ein Ende dieser Bestrafung verhängt wird. Eine vermeintliche Durchsetzung von Moral kann dann zum Verstoß gegen gültiges Menschenrecht führen.
Moral kann innerhalb einer Gesellschaft so stark ausgeprägt sein, dass sie geltendes Recht beeinflusst. Dabei wird ein generelles Verständnis der (gewünschten) Sitten in Gesetze überführt. Moralische Entrüstung kann als Zeichen persönlicher Involviertheit verstanden werden. Sie birgt die Gefahr einer Skandalisierung einer Handlung. Politisch ist sie besonders kritisch zu betrachten.


Permanent begegnet sie uns zur Zeit, diese Entrüstung.

Brauchen wir also eine neue Moral?


23.5.2021


Rituale


Wozu brauchen wir Rituale? Dem geneigten Leser aller Geschlechter ist sicherlich aufgefallen, dass dieser Blog nicht regelmäßig erscheint. Er hat sich schlicht nicht als Ritual in meinem Alltag verankert. Und mit dem darüber Nachdenken, dass es dieser Blog nicht tut, erwächst in mir zugleich die Frage, warum wir überhaupt Rituale brauchen.

Eine Gesellschaft, die so multikulturell, so vielreligiös und zugleich so atheistisch ist, hat es nicht leicht, Rituale für sich zu finden. Die Auswahl ist einfach sehr groß, sofern sie sich uns überhaupt als bewusste Wahl zeigt. Wir lassen uns nicht leicht etwas von Außen sagen. Wir verstehen uns als selbstbestimmt. Wir sind - häufig, nicht immer - wie unsere eigenen Gottesfiguren und unsere Rituale huldigen uns oft nur noch selbst, wenn es scharf formuliert werden soll. Ist ja nicht immer das Schlechteste, über sich selbst eine große Verfügung zu haben.

Soweit, so verständlich. Und zugleich scheint uns etwas zu fehlen. Eine Art Sinn oder Struktur, die Menschen häufig deutlich leichter finden, wenn sie sehr religiös sind. Rituale haben Regeln, die befolgt und oft nicht hinterfragt werden. Sie sind meistens festliche Akte, sind sehr symbolträchtig und haben eine bestimmte Ordnung.

Ordnung in Zeiten einer Krise. Ist es nicht genau, was wir brauchen? Kommt es mir nur so vor oder sind Routinen wieder sehr stark in Mode? Vielleicht der Idee der Ökonomisierung des Alltags folgend werden auf den verschiedenen Social Media Kanälen verschiedene Morgenroutinen (#morningroutine) vorgestellt und als das neue Nonplusultra angepriesen.

Aber ist das alles wirklich so neu?

Was ist denn so anziehend an Ordnung? Ist es denn das Gefühl von Sicherheit, in Geborgenheit von Routinen?

An welchem Punkt werden aus Gewohnheiten Rituale? Bestimmen unsere Rituale unseren Blick auf die Welt mit?

Jedenfalls überkommt mich die Lust an diesem Blog zu schreiben ganz unregelmäßig und unkalkulierbar. Und das möchte ich nicht ändern.

11.04.2021


Liebe


Was ist Liebe? Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten. Sie ist doch so facettenreich. Dennoch haben wir es im PhiloSalon letzten Freitag versucht.


Liebe scheint schnell die zwischenmenschliche Paarliebe zu meinen. Dabei ist Liebe mehr. Sie meint die Liebe innerhalb der Familie, die Liebe unter Freunden, die Liebe zum Beruf, die Liebe zum Hobby oder zur Lieblingsstadt. Überhaupt kann vieles ein "Lieblings-" sein. Als Kinder fragte man andere nach ihrer Lieblingsfarbe. Vielleicht in der Hoffnung durch die Antwort etwas mehr über die Person zu erfahren. Kinder mit der gleichen Lieblingsfarbe waren gleich sympathischer. Sie waren (oder sind) einem vermeintlich näher als andere. Man wurde schnell zu "Verbündeten" gegenüber den Andere-Farben-Liebenden. Wer die gleiche Lieblingsfarbe hatte, wurde schneller Freund oder Freundin. Liebe meinte dann eine Art Verbundenheit, eine Einschwörung, eine Exklusivität.


Und schon erkennen wir, dass sich diese Lieblingsfarbenverschwörung nicht zu sehr unterscheidet von dem, was wir als Erwachsene in Paarbeziehungen oder allen anderen Formen der Liebesbeziehung verstehen. Wir wollen Verbundenheit, Gemeinsamkeit, Ähnlichkeit, Vertrautheit. Hinzu kommt nun aber noch das Begehren, die Sexualität und die kulturellen, bzw. gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Es ist z.B. schwer für Liebende in nicht-exklusiven Beziehungen Anerkennung in der Gesellschaft zu finden, schwerer für Paare sich offiziell "Familie" nennen zu dürfen, komplizierter ungewöhnliche Lieben zu leben.


So manche Liebe bleibt unerfüllt und erfüllt uns stattdessen mit Schmerz, den wir - so fühlt es sich zumindest an - kaum aushalten können. Es scheint so, als wäre das die andere Seite der Medaille. Liebe im Sinne eines Sich-verletzlich-Zeigens kann auch scheitern und diese Verletzlichkeit kann eine Verletztheit werden. Aber was genau ist dann verletzt, wenn die Liebe selbst doch nicht schadet?


Muss Liebe immer eine Reziprozität erfahren, um wirklich Liebe zu sein? Oder ist es nicht schön, zu lieben wie Kinder es tun: einfach so bist du meine Freundin oder mein Freund, wenn wir die gleiche Lieblingsfarbe haben. Du musst dafür nichts weiter tun.

27.02.2021


Hoffnung


Worauf lässt sich noch hoffen? Die Frage allein mag einen recht defätistischen Eindruck erwecken. Sie kann aber auch mit ihrer Beantwortung Orientierung geben und nicht schon vorbelastet sein.


In Zeiten wie diesen, einer globalen Pandemie, scheint sich diese Frage plötzlich sehr viel schwieriger beantworten zu lassen als noch zu früheren Zeiten. Denn die Hoffnung auf eine bessere "Welt ohne Corona", so sieht es aus, währt immer nur kurz. Denn dann wird sie niedergedrückt von Neuigkeiten über neue Mutationen des Virus, womöglich gegenüber den aktuell bestehenden Impfstoffen resistenten sogar. Von beängstigenden Neuigkeiten über Lockerungen oder - je nach Perspektive - Beibehalten oder sogar Verschärfung des Lockdowns. Von Ereignissen in der eigenen Familie oder aus dem Freundeskreis. Von wieder steigenden Inzidenzwerten und R-Werten.


Wenn es nicht um die Pandemie geht, gibt es rund um das Klimathema schlechte Nachrichten. Es mehren sich die Berichte und wissenschaftliche Prognosen auf eine düstere Zukunft. Städte wie Bremen oder Amsterdam soll es nach Anschauung mancher in 2050 nicht mehr geben, bzw. sie sollen sich dann unter dem Meeresspiegel befinden. Es soll mehr Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben, etc. geben. Die Temperatur der Erde wird steigen. Viele Arten von Pflanzen und Tieren sterben aus. Vielleicht auch wir, denn auch die Zukunft unserer nachfolgenden Generation steht auf dem Spiel. Niederschmetternd. Erdrückend. Hoffnungslos?


Aber kann all das uns unsere Hoffnung nehmen? Den Plan, die Neigung zur Idee einer Nicht-Verschlechterung oder gar Besserung? Machen uns diese Ideen handlungsunfähig? Lassen sie uns in Panikstarre verfallen? Legen wir uns nieder und erwarten den Untergang? Legen wir alle Pläne ad acta, denn es lohnt sich eh nichts mehr?


Oder macht uns die Idee eines Ideals nicht erst recht motiviert zu handeln? Sind wir nicht dazu mit jeder Hoffnung noch mehr angehalten sie zu verwirklichen? Werden wir mit Hoffnung nicht alles dafür tun, dass sich unsere Ziele erreichen lassen?

Muss das, worauf sich noch hoffen lässt, denn realistisch sein? Können wir nicht dennoch nach den Sternen greifen und möglicherweise doch überrascht werden von der Kraft unserer Hoffnung? Hält uns Hoffnung nicht bei der Stange noch "ein bisschen" durchzuhalten, neue Hoffnung zu schöpfen, wo vorher keine war?


Vielleicht gibt es Ideen, auf die wir vernünftigerweise nicht hoffen sollten, um unsere Hoffnung nicht zu enttäuschen. Aber vielleicht ist es auch besser in Kauf zu nehmen enttäuscht zu werden, den Weg dahin aber in bestmöglicher Verfassung beschritten zu haben.

Schon Blaise Pascal hätte darauf gewettet, dass es sich lohnt an Gott zu glauben und ich finde, das lässt sich sehr gut mit Hoffnung gleichsetzen. Seine als Pascal´sche Wette bekannte These ist, dass es sich mehr lohnt, an Gott zu glauben als es nicht zu tun. Nun, Blaise Pascals Glauben an Gott passt nicht mehr ganz gut in unsere atheistische Zeit. Und es geht mir auch nicht darum, Glauben zu diskutieren, sondern darum Pascals Idee des "wirtschaftlichen" Blicks auf Hoffnung zu übertragen. Seine Wette setzt sich (ungefähr und stark verkürzt) folgendermaßen zusammen:


Wenn man an Gott glaubt und es gibt Gott, hat man etwas gewonnen. (=Himmel)

Wenn man an Gott glaubt und es gibt Gott nicht, hat man nichts verloren.

Wenn man an Gott nicht glaubt und es gibt Gott, hat man etwas verloren. (=Hölle)

Wenn man an Gott nicht glaubt und es gibt Gott nicht, hat man auch nichts verloren.


Für die Hoffnung bedeutet das nichts anderes als das, was bereits oben angedeutet wurde: der Weg wurde durch Hoffnung leichter. Ob die Hoffnung selbst sich erfüllt, spielt dann keine Rolle mehr. Es ist ohnehin etwas gewonnen oder aber auch nichts verloren.


Wie also verfahren in einer Pandemie und zugleich sich verstärkenden Klimakrise und wo auch immer Hoffnung gebraucht wird?

Handeln als wäre das Ideal realistisch erreichbar. Wir können auf alles immerhin weiter hoffen.

31.01.2021


Mut


Mutig wie ein Löwe sein. Wie das starke Raubtier mit dem dicken Fell und, wenn männlich, der großen Mähne. Das brüllend laute Geräusche von sich gibt und als König der Tiere gilt. Das goldene Tier der Steppe, dem man nur ehrfürchtig begegnen kann. Das ist das Bild, das Kindern in Märchen und Liedern vermittelt wird, wenn es um Mut geht. Aber sind Löwen wirklich mutig? Ist das das richtige Bild, um Mut zu vermitteln?


Was genau ist Mut eigentlich?


Sind es die Eigenschaften des Löwen, die Stärke ausdrücken? Kraft und Macht? Ist es seine Überlegenheit durch ohnehin biologische Vorteile? Sein Trieb, der ihn zum Jagen bringt? Wohl nicht.

Kann man es Mut nennen, wenn keine Konsequenzen der Handlung zu erwarten sind? Oder man ihnen ausweichen kann?

Haben wir nur Mut, wenn er sich in uns deutlich zeigt? Wenn wir beherzt handeln, wozu wir fähig sind? Wenn wir Mut brauchen und sonst nie? Ist Mut wie Freiheit nur an seinen Rändern sichtbar? Oder endet Mut mit der Sicherheit einer Routine?


Sprachgeschichtlich gilt Mut als starker Wille. So starker Wille, dass er uns schwere Bürden ertragen lässt.

Wir kennen viele Begriffe im Deutschen mit der Endung -mut:

Wir empfinden Schwermut, wenn wir traurig sind.

Großmut nennen wir es, wenn wir jemandem verzeihen können.

Sanftmut ist, wenn wir von Rachsucht und Jähzorn absehen.

Langmut zeigen Geduldige.

Wankelmut ist Unentschlossenheit.

Übermut macht uns leichtfertig.

Freimut lässt uns offen sprechen.

Hochmut als Arroganz zeigt sich gegensätzlich zur Demut.


Und sie beschreiben alle unser Gemüt, also unsere emotionale Verfassung.

Ist Mut also ein Gefühl und ein Charakterzug – und nichts weiter?

Gibt es Mut ohne Angst? Müssen wir durch sie erst in die Lage geraten mutig sein zu können? Also müssen wir uns nicht ängstigen, um Mut beweisen zu können? In welchen Situationen beweist man Mut und wann ist man gerade mutlos?


Welche Erfahrung habe ich mit “Mut”?


Nun. Als Sozialarbeiterin, die viele Jahre in psychiatrischen Einrichtungen und Einrichtungen der Suchthilfe gearbeitet hat, wurde ich oft als “mutig” bezeichnet. Zu groß schien die Gefahr im Beruf, um nicht täglich nur vom Mut gezogen zu werden.

Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich mutig war. Vielmehr sehe ich die Gefahr, die andere assoziieren, schlicht nicht oder nicht in gleichem Ausmaß. Mut ist nicht wie mir zu-mut-e war. Ich war eher guten Mutes, dass ich etwas Sinnvolles tue.

Als mutig betrachtet werden aber es nicht sein, würde das bedeuten.

Mut läßt sich aber meiner Meinung nach nicht von aussen sehen. Mut ist ein innerer Prozess. Es ist eine intuitive Auseinandersetzung mit sich selbst und den inneren oder äußeren Blockaden.


Betrachten wir ein Beispiel:


Wir stehen vor einer schmalen, alten Hängebrücke aus Holz. Bevor ich die unsichere Brücke betrete, stellen sich mir wie automatisch Gefahren vor und ich wäge sie mit den Sicherheiten ab.

Was ist, wenn die Brücke einbricht? Wie tief kann ich fallen? Lohnt es die Mühe? Bin ich nicht vielmehr dumm, wenn ich sie überquere? Was wartet auf mich auf der anderen Seite? Sieht ihr Holz morsch aus?

Nein, die Gefahren scheinen überschaubar und es wird nichts passiert, sage ich mir. Vielleicht doch. Aber ich muss es wagen!

Es fordert mich. Die Gedanken geraten durcheinander. Es bringt mich in einen Ausnahmezustand, mich zu überwinden.

Ich habe einen Entschluss gefasst und ich setze ihn um. Meine Begleiter*innen sehen dabei nur, ob ich handle oder nicht.


Mut scheint eine Handlungs-motivation zu sein, die nicht vor sich her treibt wie die Angst, sondern zu etwas hin zieht. Mut lässt streben und drängt nicht. Mut ist Bewegung, ist Antrieb. Im Mut bin ich willens Hürden zu überwinden, Kämpfe auszufechten. Aber braucht Mut eine widerständige Energie oder ist sie es am Ende selbst?


Mut hat “richtiges” Handeln zur Folge, was auch immer dem Mutigen als richtig erscheint. Mut ist nie sinnlos, denn sie bringt Werte zum Vorschein und deckt Prioritäten auf. Mit dem Mut zeigt sich unsere Person. Mut ist ein Einstehen für das, was von uns als gut empfunden wird.

Mut braucht auch Vertrauen in eine Zukunft, die durch einen mutigen Akt besser wird als die Gegenwart. Mut ist Zuversicht auf Erfolg. In Mut steckt Hoffnung und …Glück.

Wenn der mutige Akt aber erfolglos ist, trübt das den Mut nicht, den es brauchte. Es reicht also, wenn die Aussicht auf Konsequenzen besteht, wenn es auch nur vermeintlich einen Grund für Angst gibt.


Mut heißt sich der Angst zu stellen, sei sie berechtigt oder nicht. Ob die Angst dabei durch die Umstände gerechtfertigt ist oder nicht, ist dabei zweitrangig.

Ich muss nur fähig sein, etwas dagegen zu tun. Und Mut kostet eine Überwindung, er ist mehr als eine natürliche Neigung.


Bin ich als Philosophin mutig, wenn ich mich hinsetze und einen philosophischen Blog schreibe? Ist man denn mutig zu schreiben, wenn man ohnehin voller Worte ist? Oder macht mich meine Befürchtung schlechter Kritik doch mutig?


Was ist, wenn wir Mut in anderen ahnen?

 

Es geht eine Magie vom Mut aus, ein Zauber, der ihm Trittbrettfahrer schafft. Der Mut Anderer ist ermutigend, er ist eine Geste des Aufbruchs und Fortschritts. Das zeigen Geschichten aus der Vergangenheit.

Johanna von Orléans stellte sich den Feinden und bewegte hinter sich die Massen. Als Jugendliche.

Martin Luther King Jr. rief ausdrücklich zum Mut auf, er wühlte auf und legte den Mut unter der Wut frei.

Sophie Scholl erhob ihre Stimme und bezahlte mit ihrem Leben.


Mut zeigt sich als natürlicher Instinkt gegen die Angst, der Fortschritt, Entwicklung und Arterhalt erst möglich macht. Ohne Mut kein überlegter Schritt nach Draußen. Keine geplante Handlung zum Neuen hin.


Mut wird verherrlicht, wird zum Sinnbild des Lebens selbst. Wenn Soldaten mutig in den Krieg ziehen, dann manchmal für den Mut allein, für den sie gefeiert werden.

Es braucht Mut, Wahrheit auszuhalten, wenn sie bedeutet, gewohnte Muster aufzugeben. Oder bestimmte Gedankenstrukturen. Mut kann Kulturen aufbrechen.

Mit Mut kann man lernen, bis man ihn nicht mehr braucht. Nach dem ersten Schritt wächst die Trittsicherheit.

Mut sich zu zeigen, sich der Welt zu stellen ist unabdingbar für die Entfaltung der eigenen Person. Mutproben unter Gleichgesinnten formen die Persönlichkeit.

Bin ich aber mutlos, bin ich vom Leben erschöpft.


Welche Aussagen finden wir in der Philosophie zum Begriff Mut:


Immanuel Kant meinte in Anlehnung an Horaz: Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Braucht es also Mut vernünftig zu sein? Vielleicht in einer Welt, in der es andere nicht sind? Oder es den anderen zumindest zugeschrieben wird?


Doch auch gesellschaftspolitisch spielt Mut eine erhebliche Rolle:

 

Mut ist unbequem für ein gewohntes System. Er ist aufrührerisch und emanzipierend. Mut ist pure Demokratie, sie braucht Durchsetzungswillen, weil vielleicht niemand sonst wagt seine Stimme zu erheben, er oder sie selbst zu sein. Man muss eine Zumutung sein wollen.

Wäre die Mauer gefallen, hätte es keinen Mut im Volk gegeben?

Ohne Mut gäbe es keinen zivilen Ungehorsam, keine Richtungsweisung in politischer Sicht. Aus den Regeln auszubrechen braucht eine besondere Kraft und eine besondere Besonnenheit.

Nur mit Mut gelingt ein Auflehnen gegen Gruppenzwang und Unterdrückung. Mut ist Kraft gegen Kraftlosigkeit.

Mut braucht Gefahr und wird ungemütlich, sonst wäre sie bequem. Aber Mut hat mit Vertrauen das Wagnis gemein. Ja, vielleicht ist es genau Vertrauen, dass man braucht, um den Mut zu fassen etwas bestimmtes zu tun?


Welche Mutigen haben wir heute?


Ist die Kapitänin Carola Rackete mutig, wenn sie sich gegen die Gesetze von Ländern stellt, um Flüchtlingen eine sichere Obhut zu stellen?

Ist Edward Snowden mutig, wenn er die Regierung seines Landes an dessen Volk verrät?

Ist der russische Dissident Alexej Nawalny mutig, wenn er nach Russland zurückkehrt, nachdem er wie vermutet wird von Regierungsvertretern vergiftet wurde?

Sind Krankenpfleger*innen und Behandler*innen auf CoViD-Stationen mutig, wenn sie trotz Infektionsgefahr ihren Beruf ausüben?

Oder sind es vielmehr die Demonstrant*innen gegen die Corona-Maßnahmen, die als Ausdruck ihres Unmuts gegen Regierungsbeschlüsse ihre Stimme erheben?

Sind Anhänger*innen Trumps mutig, wenn sie das Capitol in Washington stürmen?

Wer entscheidet über Recht und Unrecht? Über Terror und Fortschritt? Über Mut haben und nicht haben?


Der Löwe jedenfalls steht hier wie Luther und kann nicht anders. Er folgt seiner Natur, seinem Instinkt. Er ist getrieben und denkt nicht. Er wägt keine Gefahren ab und besiegt Ängste, sondern jagt. Er hat keinen Mut. Zumindest vermuten wir es nicht.

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